VIVIEN SIGMUND ÜBER SPENCER MASONS BAUMGESICHTER

Manchmal schaut man eine Fotografie von Spencer Mason an und sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht. Da starrt man auf ein Blättergewirr, das sich fröhlich auf der Bildfläche ausbreitet, ungezähmt, nur seiner eigenen Ordnung gehorchend, der Bildausschnitt ist reine Willkür, die anderen Bilder, die man anschaut geben auch nicht viel mehr her, da tragen manchen Blüten, andere wirken Schwarzweiß, manche sind sommerlich üppig, andere winterlich karg, es will sich einfach kein System einstellen. Also kramt man den kleinen Kunsthistoriker in sich hervor und versucht zu analysieren, was man hat. Als erstes springt natürlich die Allover-Struktur ins Auge, die Äste und Blätter, die die Bildfläche netzwerkartig überziehen und weit über den Bildrand hinausweisen. Die abstrakten Expressionisten, allen voran Jackson Pollock, haben das in den 50er Jahren groß herausgebracht. Sie wollten das klassische Bildverständnis sprengen, wer braucht schon Komposition, wenn er Unendlichkeit haben kann? Weiter wirken die Fotografien flächig, allenfalls wie gestaffelte Kulissen, also wird der dokumentarische Charakter, den die Fotografie wahrscheinlich nie los werden wird, durch die Verweigerung einer realräumlichen Darstellung sanft in Frage gestellt. Und überhaupt ist es erstaunlich, wie ungegenständlich so ein Gegenstand denn nun wirken kann. Schließlich wirken die filigranen Verflechtungen auch noch wie gezeichnet und erinnern lässig an den längst ad acta gelegten, aber nie entschiedenen Paragonen zwischen Fotografie und Malerei. Und zu guter letzt sind die Fotos formal auch noch nonchalant charmant. Denn auch hier im eigentlich Unentdeckten, beim Heranpirschen an eine Interpretation, generieren die filigranen Baumstücke eine eigentümlich poetische Spannung. Denn die Zweige und Blätter wirken wie aufgespannt zwischen diversen Dualismen. Sie fußen im Hell und im Dunkel, in der Linie und in der Fläche, in der Fülle und der Leere.

Und endlich, plötzlich, manchmal sofort und manchmal später macht es klick und wie bei einem Vexierbild starrt man gebannt in ein Gesicht, dass sich aus dem Wirrwarr herauskristallisiert hat. Da formieren sich Blüten oder Blätter zu Augen, Zweigchen zeichnen eine feine Nasenlinie nach, Gestrüpp sprießt mit einem Mal auf Köpfen, Astgäbelchen konturieren Wangenknochen. Ganz unprätentiös nennt Spencer Mason seine Fotografien denn auch „Baumgesichter“ und vage fühlt man sich an das Mondgesichtprinzip erinnert: Punkt, Punkt, Komma, Strich: Es ist faszinierend aus wie wenig – oder wie viel – der Mensch, das soziale Wesen, im Kopf einen Kopf konstruieren kann und genau das auch automatisch tut. Und es ist noch viel faszinierender, wie sehr diese Baumgesichter vor Individualität und Ausdruck nur so sprühen.

Es sind Männer, die da im Geäst hausen und Frauen. Manche haben ihr Gesicht abgewandt, andere blicken einen voll an. In einer Fotografie scheint eine Frau einen Blick über die Schulter zu werfen, ihr Gesicht eine starre Maske aus Misstrauen. Ein Mann mit Ponyfransen und Koteletten blickt, das Gesicht von uns abgewandt, düster zu Boden. Die Antlitze von beiden sind stark akzentuiert, Augen und Mund heben sich als dunkle Flecken von bleicher Haut ab. Das Gesicht einer anderen Frau ist kaum zu erahnen, von dunklem Haar umrahmt, blickt die Schöne scheu vor uns zu Boden, einen Fächer aus Blättern vor den Augen. Die Flächigkeit und überlängte Ausdrucksstärke lassen einen unversehens an Porträts von Alexej von Jawlensky denken. Manche setzen sich aus unzähligen Linien zusammen, andere nur aus ein paar Strichen. Manche sind wie Fotopositive Strich um Strich ins Nichts gezeichnet, andere schälen sich wie Negative aus der Üppigkeit der Baumkronen. Es gibt Alte und Junge, Große und Kleine, Comicartige und Abstrahierte, Picassos und Piktogramme, Zarte und Kräftige, Deutliche und Versteckte. Es ist, als würde einem Spencer Mason die ganze Welt vom Himmel holen.

Und noch viel mehr als über die menschenähnliche Form verfügen die Baumgesichter über menschlichen Ausdruck. Die ganze Palette menschlicher Emotionen scheint sich da in den Baumkronen verfangen zu haben wie verirrte Seelen. Sie sind ulkig, ernst, dramatisch, verängstigt, nachdenklich, geistesabwesend (und man muss bedenken: für den Zustand der Geistesabwesenheit ist die Annahme das ein Geist anwesend ist, die Voraussetzung), die Aufzählung ließe sich ewig so weiterführen. Wenn man sich die Hunderte (und Tausende aussortierte) von Fotos anschaut, die Spencer Mason geschossen hat, fragt man sich unversehens zweierlei: Erstens ob man sich bei diesem Gewimmel in unseren Bäumen eigentlich jemals in der heimischen Natur alleine fühlen kann und zweitens, ob Spencer Mason eigentlich jemals beim Laufen nach unten blickt.

Beides Fragen übrigens, die am Kern der Arbeit kratzen, oder besser: an den Kernen. Der eine Kern ist der hilfesuchende Blick nach oben. Spencer Mason beschreibt das in seiner so offenherzigen, amerikanisch gefärbten Art unnachahmlich entwaffnend: „So the answer to the question what the fuck should I be doing with my time, my life, was the question, the looking up for some sort of expression or sign. And finding something I´d never expected.“ Der Wald in seiner Einsamkeit, natürlichen Erhabenheit und ungezähmten Mystik hat in Deutschland seit der Romantik ohnehin Tradition. Nun fand aber Masons Blick gen Himmel im Gegensatz zu dem der meisten anderen direkt Gehör. Er stolperte über Spannungen im Blätterdach, spannende Momente, die sich aber im Licht der Kamera kaum mehr entziffern ließen. Im Wald aber waren sie da, unzählige Gesichter, die auf ihn herabblickten. Für den Mensch, das sehnsuchtserfüllte Wesen, mag das tröstlich sein im Moment und Grund zur Paranoia im nächsten Augenblick. Symptomatisch ist es allemal: Denn seien wir doch mal ehrlich, wann sind wir denn heutzutage noch wirklich völlig allein? Allein im Sinne von unbeobachtet in dieser Welt? Da muss man gar nicht zwingend so weit ausholen und Stichworte wie NSA Abhörskandal, Satelliten, Drohnen und GPS im Handy fallen lassen, da macht auch die enge Bebauung und die menschliche Anteilnahme den Nachbarn zum ständigen Begleiter des eigenen Lebens. Das wünscht man sich ja auch, aber eben nur dann, wenn man es gerade nicht hat. Und dann verschmelzen Mensch und Natur zum Baumgesicht.

Um diese Momente der Spannung im Blättergewirr zu enttarnen, hat Spencer Mason den Wald ohnehin recht bald wieder verlassen. Um die Ordnung im Chaos offenbar werden zu lassen, brauchen die Bilder einen neutralen Hintergrund. Inzwischen besucht er die Bäume in Parks und auf Friedhöfen. Immer und immer wieder. Umkreist sie langsam, versenkt sich in ihren Charakter, folgt den einzelnen Linien der Zweige und Äste, beobachtet ihren Wandel in den Jahreszeiten, die manchmal täglichen Veränderungen nach Windstößen, die das Flechtwerk der Bäume zerzausen und die Gesichter und ihren spezifischen Ausdruck immer wieder neu formen. Auf diese Weise verbringt Spencer Mason stundenlang mit den Bäumen, lernt sie kennen, versenkt sich im Suchen, fokussiert. Das Bildermachen ist wie Meditation, voller Ruhe, Konzentration, Zeit. Dieser Eindruck von Zeitlosigkeit, Kleinteiligkeit und Ruhe, immer wieder Ruhe und Langsamkeit liegt wie ein Firniss auch über den fertigen Fotografien. Der Blick nach oben vermag es ganz gegenläufig den smartphonegegängelten Bürger zu erden, herunterzuholen aus der atemlosen Hektik des Alltags. Vielleicht beantwortet das, zusammen mit der Tatsache, dass Mason über 700.000 Bilder pro Jahr schießt, die Frage, ob Spencer Mason je nach unten blickt beim Laufen. Er tut es nicht. Er hat sogar Plastiküberzieher für seine Schuhe in der Fototasche, um nicht auf die allzu profanen Hundehaufen achten zu müssen. Denn die können einen auch herunterholen. Auf den Boden der Tatsachen allerdings nur.