I: Warum Baumgesichter? Warum nicht einfach Bilder von echten Menschen?

S:  Ich bin eine unfassbar ungelenke und schlecht koordinierte Person in fast allen Situationen; gute Straßenfotografen müssen unsichtbar sein und das kann nicht funktionieren, wenn du andauernd Gegenstände anrempelst während Zeugs aus deiner Hosentasche fällt. Ich habe eine merkwürdige Neugier was Menschen betrifft. Ich sehe sie oder hab was mit ihnen zu tun und will auf einmal mehr über sie wissen, oder sie einfach für eine Weile gründlich anschauen. Schon bevor es Internet gab, wollten die meisten Menschen nicht fotografiert werden. Fotografen waren flink, haben ihre Bilder quasi geklaut ohne bemerkt zu werden. Damals hätten die meisten Menschen so eine kleine Belästigung akzeptiert ohne sich groß aufzuregen. Sobald die Situation vorbei war, hatten sie es eh vergessen, außer man wurde dabei ertappt wie man etwas wirklich Anstößiges fotografierte. Jetzt, da wir wissen dass ein Bild innerhalb Minuten gepostet und millionenfach gesehen werden kann, sind wir weniger tolerant wenn uns Fremde mit unbekanntem Motiv fotografieren. Cartier-Bresson, der das Fotografieren aufgab um Landschaften zu zeichnen, war es schmerzlich bewusst wie unangenehm es ist Bilder von Menschen zu machen, die nicht unbedingt fotografiert werden wollen. Bevor es Digitalkameras gab, kam ich selbst nicht damit klar und meine ersten Versuche danach waren so kläglich, dass es nicht schwierig war es wieder sein zu lassen – bis auf die unscharfen Bilder. Diese Bilder – ein paar sind auf dieser Website – sind ziemlich einfältig aber erstaunlicherweise hat sich beim Schießen kaum jemand darüber aufgeregt. Es war als ob sie wussten, dass ich nicht in ihre Privatsphäre eingreifen wollte. Sehr oft erahnen wir im Voraus wenn jemand was von uns will. Hast du je versucht einen Bild von einem Menschen zu machen der in die andere Richtung schaut, der in Gedanken verloren ist, und von deinem Dasein nichts weißt, der sich dann aber plötzlich, gerade bevor, oder während du den Auslöser drückst, zu dir umdreht? Diese Menschen spüren was los ist auch wenn sie nicht sagen können, warum.

I: Wie bist du zu Bäumen gekommen?

S: Das hat keinen besonderen Grund. Mein Vater war ziemlich senil in der Zeit bevor er starb. Er hatte klare Momente aber die meiste Zeit war er in seiner eigenen Welt.

I: Und?

S: Nun ja, während dieser Zeit war er nicht fähig eine väterliche Rolle im traditionellen Sinne zu übernehmen. In Folge dessen begann ich,  ohne es selbst zu merken, mich nicht länger verpflichtet zu fühlen seine Erwartungen zu erfüllen.

I: Erwartungen?

S: Ja; ein guter Sänger zu werden. Ich war ziemlich erfolgreich als Knabensopran und wir gingen alle davon aus, dass ich einfach so weitermachen würde. Ich besuchte angesehene Musikschulen und arbeitete mit einigen großartigen Menschen zusammen, aber entweder war mir das zum richtigen Erfolg  Erforderliche einfach nicht angeboren,  oder ich habe nie herausgefunden, was es ist. Mit 56 weiß ich immer noch nicht genau wieso es nicht geklappt hat. Jedenfalls klappte es nicht.

I: Aber du singst immer noch?

S: Ja. Es ist hauptsächlich Chor-Zeug, was gesanglich nicht so stressig ist. Ich habe seit über einem Jahr kein Solo mehr gesungen. In zwei Wochen beginnen Proben für Tosca wo ich Angelotti singe . Der Part dauert zwar nur ca. 3 Minuten, aber man kann es dennoch schaffen, sich in dieser Zeit ziemlich zu blamieren. Ich verbringe jeden Tag übermäßig viel Zeit damit, zu versuchen meine Stimme in eine verlässliche Form zu bringen – nur für diese 3 Minuten. Inzwischen muss ich mich selbst daran erinnern jeden Tag zu üben, weil ich mich kaum mehr mit dem Singen identifiziere.

I: Du langweilst mich.

S: Ja, sorry. Jedenfalls, mein Vater starb im Grunde genommen in dem Moment, in dem ich anfing nach einer Bestimmung  für mich zu suchen. Er war sowohl physisch als auch mental sehr fragil; er ging gebeugt, fiel immer mehr in sich zusammen, es war schwieriger zu ihm aufzusehen – auf wirklich viele Arten. Also fing ich an mich nach anderen Dingen zum Aufsehen umzusehen. Ich hatte schon früher ein paar Baumgesichter aufgenommen, hauptsächlich Weiden, und ich wollte sehen, ob ich da mehr rausholen könnte, also ging ich in den Wald, wo es sehr viele Bäume gibt, was irgendwie ein Fehler war; angeblich die Art von Fehler, die man machen muss, um dort hinzugelangen, wo man hin will. Zu meiner Verteidigung hatte ich damals keine Ahnung wo ich hin wollte. Es gibt sehr viele Wälder in der Nähe meiner Wohnung und ich versuchte stets in die Wälder zu gehen, die mir noch fremd waren. Da ich (sowieso) nicht wusste was ich aus meinem Leben würde machen wollen, schien es mir angemessen, in mir unbekannten Orten herumzuwandern. Wälder sind dicht und eintönig, und die Bäume stehen eng um einen herum, sodass man wenig Möglichkeit für Perspektiven hat. Es war November, also waren die meiste Blätter schon weg. Ich interessierte mich für das blanke Geäst der Bäume, wie es sich verzweigt und ein Ganzes wird. Ich denke in diesem Winter, bis die Blätter anfingen zu sprießen, gab es aus den vielleicht 80.000 Aufnahmen die ich gemacht hatte, nur eins das mir bis heute gefällt. Tatsächlich habe ich von diesen Bildern um die 50 im Foyer des Theaters, in dem ich arbeite, aufgehängt und niemand hat zu mir gesagt, dass es nicht möglich sei zu erkennen was ich mit den Bildern sagen möchte, was eigenartig ist, weil Theatermenschen schonungslos ehrlich sein können. Ich dachte die Aufnahmen wären gut. Glücklicherweise hatte ich nicht erkannt wie schlecht sie waren, bis ich Bessere gemacht habe, von denen die meisten, was ich später natürlich erkannte, auch furchtbar waren, wenn auch geringfügig besser. Der Weg zu etwas Lohnenswertem scheint gepflastert von fortwährendem Versagen. Ich habe vor Kurzem das Weltmeisterschaftsfinale geschaut. Das deutsche Team versagte bei unzähligen Chancen über 112 Minuten hinweg, bis endlich ein Tor fiel. Man muss fähig und gewillt sein, völlige Demütigung über lange Zeit hinweg zu ertragen, um ein passables Ergebnis zu erzielen.

I: Also was war das Problem mit dem Wald?

S: Seine Dichte, was mich unter anderem zu ihm hinzog. Es gab immer etwas vor, zwischen oder hinter dem Zentrum meines Fokus. In diesen Aufnahmen ging es um das Gefühl, was mich, uns erwarten könnte; um  lauernde Dinge, die für uns kaum erkennbar sind. Vielleicht war es Verbunden mit Überlebensinstinkten die über Jahrtausende, von primitiven Menschen weitervererbt wurden, die in ihnen unbekannten Gegenden herumgelaufen sind, in dem Wissen, dass sie nicht wussten was sie zu erwarten hatten. Unerwartetes geschieht mir ständig. Ich fahre los um bestimmte Bäume zu fotografieren und werde, auf dem Weg, von anderen, die vielleicht interessanter sind, aufgehalten. Der Tod meines Vaters war überraschend. Er war zwar 88 und verwirrt aber er war körperlich robust, hat gut gegessen, konnte gut Treppen steigen. Bis 5 Wochen bevor er starb machte er täglich einen drei Kilometer langen Spaziergang.

I: Das ist eine ganz schön schwierige Ansammlung von Ideen und Ereignissen, um sie in Fotos von Bäumen zu kommunizieren.

S: Ja, die meisten Bilder wurden letztendlich auch sehr chaotisch. Die ganze Zeit allein zu sein hat mir allerdings viel gegeben; ich habe die Konzentration genossen, die die Abgeschiedenheit möglich machte.

Durch diese Bilder habe ich gelernt über zunehmend längere Strecken allein zu sein. So wie Glenn Gould sagte: „Für jede Stunde, die man in Gesellschaft anderer Menschen verbringt braucht man X Stunden alleine. Isolation ist ein unerlässlicher Bestandteil menschlichen Glücks.“

Wir denken näher an Dinge herangehen zu müssen, um sie klar sehen zu können und oft ist das der Fall, aber für mich ist es genauso wichtig von Dingen oder Menschen Abstand zu nehmen um sie sehen, geschweige verstehen zu können. Ich kann nicht sagen wie oft ich mir gewünscht habe, dass ich nicht so nah an ein Baumgesicht herangezoomed hätte, wie viel besser es geworden wäre, wenn ich einen Schritt zurück gemacht und es in einen Kontext gesetzt hätte. Alleine zu sein ist der einzige Weg für mich Zugang zu meinem Inneren finden. Bestimmte wesentliche Teile von mir sind viel entspannter, wenn ich alleine bin. Wenn ich eine Weile alleine bin sehne ich mich aber natürlich nach anderen Menschen. Ein weiterer Grund für die Gesichter in Bäumen. Sie leisten mir Gesellschaft.

I: Was hat dich vom Wald wieder abgebracht?

S: Kastanienbäume haben mich schon immer angezogen. Es gibt, 50 Jahre später, noch immer einen Großen im Garten des Hauses in London, in dem ich aufwuchs. Man kann den Baum auf Satellitenbildern von Google Earth sehen. Ich erinnere mich daran, wie ich die Kastanien gesammelt habe, welche durch ihre Form, Farbe und Beschaffenheit ziemlich faszinierend sind für Kinder. Es gibt Tonnen von Kastanienbäumen in der Gegend in der ich jetzt lebe. Ich war in Stuttgart, im späten August 2010, wo ich, auf einer Fläche von vielleicht zwei Fußballfeldern, um die 150 von ihnen fand und ich entdeckte ein „Bild“ das mir gefiel. Ich war so begeistert, dass ich meine SD Karte direkt zum DM brachte und ein paar Abzüge machen lies. Spät an diesem Abend hatte ich eine Verabredung zum Essen mit meiner (inzwischen) Frau und ein paar Freunden, aber ich musste zuerst, weil ich, damals wie heute, etwas quabblig war, für mein tägliches Programm ins Fitnessstudio. Am Empfang saß dieser Trainer den ich mochte, weil er sich sichtlich selbst erfand; er trainierte mit Männern in ihren 40ern und 50ern auf diesem Gerät, das „Power Plate“ genannt wird und trieb sie bis an ihre Grenzen. Jeder dieser Männer stöhnte ausnahmslos und so demonstrativ, dass man sie einfach bemerken musste. Der Trainer, Ruben Klingel, ist klug, ambitioniert und optimistisch, aber auf eine total bescheidene Art. Sein Körper ist dermaßen hochtrainiert, dass er keine Attitüde nötig hat. Er ist halt ein Athlet, nicht jemand, den man weinnippend bei der Eröffnung einer Kunstausstellung erwarten würde. Also zog ich meinen Abzug aus der Tasche und fragte Ruben „Was ist das?“ und er antwortete ohne zu zögern „Eine Frau“ – was ich es auch sah. Den Himmel als neutralen Hintergrund zu haben machte das, auf das ich  aus war, deutlicher. Es fühlte sich an, als hätte ich eine Sprache entdeckt, die möglicherweise andere verstehen konnten. Ich war den Gesichtern in den Bäumen auch offensichtlich viel näher während ich die Aufnahmen machte, so ähnlich wie der Abstand den man hält, wenn man in ein wirkliches Gesicht schaut.

I: Was hat es mit den Kastanienbäumen auf sich?

S: Ich bin so froh, dass du das fragst. Im Frühling ist es schwer mit der Dichte der Blätter umzugehen und im frühen August fangen die Blätter schon wieder an welk und kraus zu werden, sich in verflochtene, Tangram-ähnliche Puzzle zu verwandeln. Im Oktober und November ist es einfacher. So, wie einem Kind Süßigkeiten abzunehmen. Aber es ist selten leicht, etwas wirklich Interessantes zu finden. Ich kann nicht sagen wie oft ich zunächst dachte etwas wirklich Cooles entdeckt zu haben, um dann festzustellen, dass es Müll ist. Man lebt mit dem Risiko seine Zeit und sein Leben zu verschwenden. Schlussendlich bin ich jedoch so gut wie sicher, dass die Besten der Bilder einen Blick wert sind.

I: So gut wie sicher? Klingt als würdest du Raum für Zweifel lassen.

S: Muss ich. Zweifel gibt es immer. Ich durchlaufe ständig diesen Prozess, dass ich hinterfrage – und mir dann selbst bestätigen müssen –  worum sich all das dreht. Das Opernbusiness ist ähnlich aber auch  anders. Die brillanten Werke sind da und werden niemals sterben. So lang es die Erde gibt, wird es Verdi geben und das ist auf eine Weise ganz schön beruhigend.

Ein ordentlicher, klassischer Musiker kann sich bis zu einem bestimmten Punkt an eine Institution binden, die regelmäßig Meisterwerke aufführt. Obwohl diese großen Werke oft in idiotische Produktionen gefasst sind, überlebt das Stück normalerweise. Aber wenn man da draußen ist und versucht denkwürdige Bilder festzuhalten, gibt es nichts außer seinem Gefühl auf das man sich verlassen kann. Obgleich ich ein paar Ausstellungen hatte, habe ich mich nie wirklich den Launen der Kunstwelt ausgesetzt. Vor ein paar Sommern habe ich Bildbände von meiner Arbeit, an ein paar Galerien in Berlin verteilt. Eine intelligente Frau in einer Galerie, welche auf naturverbundene Fotografien spezialisiert ist, hat mir unmissverständlich gesagt wie furchtbar sie meine Bilder fand. Am Anfang war sie etwas zögerlich aber ich habe sie ermutigt. Sie hat nie ihre Stimme erhoben aber es war offensichtlich wie entrüstet sie über meine Annahme war, ihre Galerie könnte an so einem Scheiß interessiert sein. Ihr Gesicht wurde immer röter; sie sah aus als bekäme sie jeden Moment ein Aneurysma. Sie tat mir leid, was ganz schön seltsam ist wenn man bedenkt, dass sie mich (Glied um Glied)  in Stücke gerissen hat. Sozusagen. Dass ich die ganze Zeit gelächelt habe wird wohl auch nicht geholfen haben. Ich meine, es ist absurd; wenn Leute so einen Hass schüren, dass die Situation ihre Rechtmäßigkeit verliert, wird es zur Farce. Diese Frau versuchte – im festen Glauben daran, zu meinem eigenen Wohl zu handeln – mich zu entmutigen, doch es schien (und scheint) offensichtlich zu sein, dass sie jeden Grund gehabt hätte mich zu bestärken. Es braucht ein großes Maß an Selbstbewusstsein um etwas richtig zu machen; jeder Mensch mit auch nur ein wenig Selbstrespekt erkennt, wenn seine Kritik klar destruktiv ausfällt. Es ist trotzdem Arbeit so was zu verarbeiten. Ein Duzend Leute können die nettesten Dinge sagen, aber es ist immer die Scheiße die dir am Schuh hängen bleibt – man merkt sich die Beleidigung und kaut sie über Wochen und Wochen durch.

I: Deine frühen Aufnahmen, so wie die von 2010, die Ruben gefielen, sind mehr oder weniger schwarz-weiß. Dann plötzlich, im Frühling 2012,  gibt es eine Farbexplosion. Was hat es damit auf sich?

S: Ja... Die Schwarz-Weiß-Bilder sind klarer, einfacher zu entschlüsseln. Als der Frühling kam war ich zunächst niedergeschlagen, ich hatte keine Ahnung was ich mit den Blüten anfangen sollte. Viele Männer sind sehr konservativ was Farben angeht. Wie die meisten Kerle würde ich mir vermutlich niemals rosa Hosen kaufen.

Wenn Frau Merkel bei einem wichtigen Event in einem pfefferminzgrünen Outfit auftritt, akzeptieren wir dies. Würde Barack Obama für eine State of the Union Rede in einem pfefferminzgrünen Anzug aufkreuzen, würde er angeklagt werden. Meine Frau und ihre Töchter leben für alles was bunt ist. Was sie tragen und womit sie sich umgeben ist echt heftig. Wie manche Männer, versuche auch ich, es bisweilen meiner Frau recht zu machen, also entschied ich, als ich die Farben in den Bäumen sah, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Mein Sohn, der einer meiner härtesten Kritiker ist, sagte die Bilder wären schwul. Ein starkes Pink geht für die meisten Leute mit Weiblichkeit einher und ist als solches belanglos oder kitschig. In jedem Fall sind die Würfel für mich gefallen. Was als fragwürdige Konzession begann, entwickelte sich zu meiner eigenen Obsession; ich bin total begeistert von allen Arten von blühenden Bäumen. Eines der schönsten Dinge am Winter, ist die Vorfreude auf den Frühling.

I: Bist du ein Fan von Photoshop?

S: Ich hab's nicht mal. So weit bin ich nicht gekommen. Ohne wirklich darüber nachgedacht zu haben gehen die Meisten von uns – so wie ich – davon aus, dass Fotos wahrheitsgetreu sind. Wenn mir jemand ein Bild von etwas zeigt, supponiere ich normalerweise, dass ich, mehr oder weniger, das sehe, was jeder in der selben Situation auch sehen würde, es sei denn etwas in dem Bild lässt anderes vermuten. Trotz allem, was wir über die Art, wie ein Bild manipuliert werden kann, mutmaßen oder wissen, werden Fotos immer noch benutzt, um Dinge zu zeigen wie sie sind. Es ist wichtig für mich, dass meine Bilder so rein und unverfälscht wie möglich aussehen. Ich nutze die Hilfsmittel die iPhoto bietet und habe oft ein ungutes Gefühl beim Zuschneiden, wenn ich den Kontrast verändere, aus einem bunten ein schwarz-weißes Bild mache oder ein schiefes Gesicht begradige. Häufig behalte ich viele Versionen der selben Aufnahme als eine Art Absicherung. Das muss ich, weil die Kamera das was ich sehe, jedes mal anders übersetzt; in wie weit das Bild dem gleicht, was ich sehe, variiert vom Bild zu Bild. Die Kamera reagiert halt anders als ich, hat generell ein schwächeres Tiefenschärfevermögen und ein komplett anderes Gefühl für Farbe. 

I: Du scheinst ein bisschen hinterher zu sein was den Bearbeitungsprozess angeht. Das letzte Bild das du geposted hast ist vom Herbst 2013; ein Jahr her. Was soll das?

S: Ich dachte schon du würdest nie fragen. Ja, es ist irgendwie bescheuert. Es liegt mir viel näher Fotos aufzunehmen als sie letztendendes anzuschauen, also hat Ersteres Priorität. 2013 habe ich mehr als eine halbe Million Aufnahmen gemacht und wühle mich jetzt, zum zweiten mal, durch die vom Herbst. Ich fange mit einer Reihe von 1000 Bildern an und stutze sie auf 250 runter. Von da auf 30 und so weiter.

I: Nicht gerade ökonomisch.

S: Du sagst es. Mit einem richtigen Film könnte ich diese Art von Verschwendung sicherlich nicht beibehalten. Einmal bin ich mit einem Freund bei einer Ausstellung von „Korrekturabzügen“ gewesen. Robert Frank hat es geschafft, 3 oder 4 Meisterwerke mit einer einzigen Filmrolle zu schießen. Zu dieser Zeit hab ich noch nicht mal Fotos gemacht und ich wollte nur kotzen. Es ist wirklich von Vorteil wenn man seine Bilder erst so eine lange Zeit nach dem man sie aufgenommen hat anschauen kann. Es fällt leichter objektiv und mit Fehlschlägen nachsichtiger zu sein, als ich es vielleicht bin, wenn ich Zeug anschaue, das ich heute Nachmittag geschossen hab.

I: Was stellt für dich ein gutes Bild dar?

S: Ich muss es wieder und wieder anschauen können, ohne des Bildes überdrüssig zu werden. Nachdem ich 160,000 Fotos auf vielleicht 60 reduziert habe, zeige ich die Übrigen ein paar Freunden. Dann, nach einer Weile, vielleicht zwei Wochen, einem Monat, komme ich auf diese Fotos zurück und lösche ein paar mehr. Mein Motto ist, When in doubt, throw it out, was so viel bedeutet wie, wenn du an einer Situation oder einem Objekt zweifelst, entscheide dich dagegen.

Das Jäten hört eigentlich nie auf. Irgendwann wird’s absurd, irgendwann kann man das meiste, egal wie gut es ist, nicht mehr sehen. Es gibt dutzende von wunderbaren Opern, Musicals, und Operetten, die ich den nächsten paar Jahren gar nicht mehr hören möchte. Auch deswegen muss man immer neue Bilder machen.

I: Machst du dir Sorgen, dass dir, oder den Menschen, denen du die Bilder zeigst, die Baumgesichter irgendwann langweilig werden?

S: In einem kritischen Moment wurde ich etwas nervös, aber es gibt so viele verschiedene Arten von Bäumen, dass das Projekt immer größer und größer zu werden scheint. In ein paar Jahren wäre ich gern imstande Bücher und Ausstellungen ganz bestimmten Bäumen zu widmen. Tulpenbäumen, Walnuss- und Trompetenbäumen, Magnolien, Mandelbäumen, Platanen, Gleditschien, Blaseneschen und, natürlich, Kastanienbäumen und Buchen vielleicht. Im Moment, birches are my bitches. Diese ganze Arbeit ist eigentlich sowieso nur eine Metapher für Konzentration. Die Gesichter springen einem nicht einfach entgegen und sagen „hallo“; es braucht Zeit, Ausdauer, Beharrlichkeit und Vertrauen in die eigene Intuition und ich denke Menschen, die diese Bilder ansehen, spüren die Arbeit, die dahinter steckt.

I: Also hast du mehrere Projekte gleichzeitig am Laufen?

S: Ja. Davon abgesehen gibt es immer noch viele Baumarten über die ich überhaupt nichts weiß. Ich komme aus New York, ich hab keinen Schimmer von Bäumen; das ist völlig neues Terrain. So fremd zu sein hilft dennoch auf eine Art, es hält mich „frisch“, staunend. Es macht auch nichts aus, dass die Bäume in jeder Hinsicht größer sind als man selbst. Man kann weder den Anfang, noch das Ende erreichen. Ständig passiert etwas, irgendwas ist immer am verwelken oder aufblühen.

I: Wer hat dich beeinflusst?

S: Hockney, mehr als jeder andere. Er hat sich erst spät in seinem Leben mit Natur intensiv beschäftigt. Ich denke es ist wichtig, wie es dazu kam: Er kam aus Kalifornien nach England um seinen Freund Jonathan Silver zu besuchen, der im Sterben lag und auf dem Weg zum Krankenhaus sah er einige Landschaften, die seine Aufmerksamkeit erregten. Es ergab sich etwas Positives aus dieser mitfühlenden Geste. Jedenfalls geht es bei  Hockney ums genaue, aufmerksame, liebevolle Beobachten. Seine wiederholte Darbietung der gleichen Szenen zu unterschiedlichen Zeiten des Jahres und Tages, aus und von verschiedenen Winkeln und Standpunkten, spricht für seine lebenslange Beschäftigung mit Perspektive, für seine frische Neugier, tiefe Zuneigung und Treue zu den Szenen die er darstellt, seinen Glauben an und seinen Respekt für ihr enormes erzählerisches Potential. In einer Welt in der wir oft so tun, als hätten wir alles unter Kontrolle, ist es entwaffnend mit Bildern, hinter denen offensichtlich so viel Zeit und Sorgfalt stecken, konfrontiert zu werden. Seine Bilder, welche wiederum bewusst Teile größerer Projekte sind, die sich über Wochen , Monate und Jahre erstrecken, geben uns das Gespür für Wunder zurück, das Gefühl Teil von etwas so viel Größerem und Beständigerem zu sein.

Ich kehre immer wieder zu den gleichen Bäumen zurück und natürlich haben sie sich jedes mal verändert. Es kann viel passieren in ein paar Tagen. Tulpenbäume – vor 4 Jahren wusste ich nicht einmal was ein Tulpenbaum ist – sind im Winter, wie im Sommer, Frühling und Herbst immer gut für ein Gesicht.  Ich kann mir vorstellen nach ein Paar Jahren – falls i so lang leb – ein Buch von Tulpenbäumengesichter zusammenstellen zu können der eben die vielseitigen Ausdrucksmöglichkeiten diese Bäume a bissle zelebriert.  

Lee Friedlander ist ebenfalls ein guter Lehrer. Oder Bernd und Hilla Becher. Wer kümmert sich einen Dreck um Fachwerkhäuser oder Gasometer? Aber die Bilder Bechers sind so konsequent, obsessiv organisiert, so unfassbar Deutsch, dass ich sie einfach lieben muss.

I: Was für eine Kamera benutzt du?

S: Eine Nikon 5200, die Zweitschlechteste Nikon, aber für meinen Bedarf ausreichend; das Gehäuse ist aus Plastik und darum leicht. Ich könnte eine bessere Kamera benutzen, aber die wäre schwer und ich bin 56 und ständig mit dem Fahrrad unterwegs, um zu den verschiedenen Bäumen zu kommen. Die Stadt, Pforzheim, in der ich lebe ist sehr hügelig und der Friedhof, wo die meisten der besten Bäume stehen, ist ganz oben.